Steffi Weiss

Wasserwelten in Istanbul - Zeichnungen, Malerei und Installationen 

Wild auftürmende Wellen schwarz glänzenden Wassers wogen dem Betrachter in Silvia Erdems Zeichnung „Fingerzeig“ scheinbar entgegen. Rhythmisch schlagen die Wellen höher, bis sie beschwingt auseinanderfließen, sich mit dem Horizont verbinden und weiß aufgelöst als unsichtbare Energie im Kosmos verschwinden. Energie geht nicht verloren. Sie wandelt sich nur um. So auch das Wasser. Es wandelt unermüdlich seinen Zustand in dem von der Natur bestimmten Kreislauf. Massimo Bartolini’s Installation „o.T.“ (Wave) auf der DOCUMENTA 13 führte durch die unaufhörliche Bewegung der Wasserwelle jenen Kreislauf im Detail vor.

 Wasser trennt und verbindet. Es reguliert alles Leben. Ein natürliches Maß bedeutet  Gedeihen, zu viel davon bringt Verderben. Leonardo da Vinci verarbeitete seine Furcht vor der Gewalt des Elements in der Werkserie „Die Sintflut“. In seiner Zeichnung „Felsen und Wasser im Sturm“ wird dies besonders deutlich: Das Wasser wirbelt, es wogt nicht mehr nur, wie in Erdems Darstellung.

 Jeder kennt die chemische Formel für Wasser. Um H2O dreht sich das künstlerische Schaffen der multimedial arbeitenden deutschen Künstlerin Silvia Erdem. Das Wasser ist die Quelle ihrer künstlerischen Arbeit. Sie untersucht Wasser als Lebens- und Energiequelle in historischer, kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht und transformiert ihre Erkenntnisse in die heutige Zeit. Ihr Interesse gilt dem Prozesshaften, das dem Element Wasser innewohnt. Und der Interaktion des Menschen mit Wasser. Dies setzt die Künstlerin in verschiedenen Ausstellungen und Projekten um, wie etwa den geplanten „H2O Oasen“ in Istanbul, die sie plastisch auf drei Ebenen gestaltet: unterirdisch, im Wasser und an der Oberfläche der Stadt.

 Es ist kein Land in Sicht. Kein Mensch ist zu sehen. Lebhafte Wellenbewegungen vereinnahmen in Erdems Zeichnungen den gesamten Bildraum, anmutig und natürlich schön. Ihre Dynamik lässt eine ungeheure Macht erahnen, die Energie spürbar werden. Doch was ist dort, wo nur Wasser zu sehen ist? Auf was deuten die Wasserbewegungen und –strukturen hin. Welche Geheimnisse verbergen sich unter der Oberfläche? Was beim Eintauchen in diese Wasserwelt passiert, machte Erdem auf sehr sinnliche Weise in ihrer Ausstellung „Implosion“ im Artist Village Cattle Depot in Hongkong erlebbar. Die Installation „Implosion“ war ein Raum, der den Besucher zunächst ins Weiß eintauchen ließ. Stille und Leere umgeben ihn. Allmählich verändert sich das Licht für eine Weile, begleitet von einsetzendem Meeresrauschen. Im Schwarzlicht werden gezeichnete Wasserstrukturen auf den Wänden und dem Boden sichtbar. Die Strukturen beginnen, durch die phosphoreszierende Farbe zu flirren. Für einen Moment könnten es auch Wasserwellen sein, die den Betrachter bei klingendem Meeresrauschen umspülen. Wo befindet er sich innerhalb dieses Gefüges? Ist er in sich bewegendes Wasser, ein gezeichnetes Bild oder Leere eingetaucht? Der ursprüngliche Raum löst sich jeweils mit seiner vom sukzessiv wechselnden Licht bestimmten Veränderung virtuell auf. Die Wahrnehmung wird gefordert. Der irritierte Betrachter muss sich, wie auch im Leben immer wieder neu verorten in den vorgegebenen, sich scheinbar verändernden, Strukturen.

 Das Echo der Wellen erklingt auch in ihrem Beitrag „city concept for Istanbul“ für das Kunstprojekt „Overtures“ wider. „Overtures“ steht für transdisziplinäre Kunstprojekte, die alternative Denkanstöße für den nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen liefern. Silvia Erdem ist Mitglied einer interdisziplinären Spezialistengruppe, die sich mit der langfristigen Wasserversorgung weltweit und in Istanbul befasst. Mit ihrem Beitrag ging die Künstlerin über ein reines Enthüllen und Wahrnehmbarmachen der „Naturwunder“, wie es Olafur Eliasson bisweilen auf grandiose Weise gelingt, hinaus. Erdems entworfenes „city concept for Istanbul“ gibt mögliche Antworten. Ihr künstlerisches Nutzungskonzept, das u.a. eine begehbare utopische Wasserkugel als Konzertsaal im Bosporus beinhaltet, wird in der urbanen Architektur zu einer Perle der Selbstfindung für den Besucher und läutet ein neues Verständnis von Kunst im öffentlichen Raum ein.

 Gleichsam einem Wellenschlag, dem der Nächste folgt, entstehen Erdems Kunstprojekte unter- und oberirdisch in Verbindung mit dem Lebenselixier Wasser. Sie bringt damit hervor, was unter der Oberfläche in Istanbul ruht: Versunkenes, Vergangenes – und Wissen für Zukünftiges. Dieses Wissen vermittelt sie im „ city concept for Istanbul“, wozu auch die folgenden geplanten Kunsträume „H2O Oasen, Wasserspeicher Gärten“ und der „osmanische Garten“ gezählt werden können. Die fantastischen Gärten dienen als Spiegel einer längst vergessenen Philosophie und der Selbstreflexion. Zugleich sind sie Metapher für das überall gegenwärtige Wasser, das dem Garten seine Gestalt verleiht, und bilden einen Ruhepol zum Ausspannen in der hektischen Großstadt. Die dicht besiedelte historische Megacity am Bosporus liegt zwischen zwei Meeren – die Stadt wird vom Wasser bestimmt. Als einstige Hauptstadt dreier Weltreiche, mit einer wechselhaften Geschichte, wurde die Stadt kulturell in der byzantinischen Zeit zunächst christlich, seit der osmanischen Zeit islamisch geprägt. Die Wasserkunst, mit ihren ausgeklügelten Bewässerungssystemen, hat in Istanbul eine weit zurückreichende Tradition. Im angrenzenden Belgrader Wald befinden sich historische Aquädukte, Staudämme und Wasserbecken, deren Wasser zur Versorgung der Hauptstadt zumeist in unterirdischen zuweilen auch oberirdischen Zisternen gespeichert wurde. Die historische Wassertour „En Route On Istanbuls Waterways“, die Erdem konzipiert und in Kooperation mit İSKİ zu den Anlagen durchgeführt hat, legt Zeugnis davon ab.

 Für das geplante unterirdische Projekt „Wasserspeicher Garten“ reiste Erdem in die Vergangenheit Istanbuls, zurück bis zu den Ursprüngen der Wasserkunst im alten Byzanz. Sie spürte zum Teil verschüttete und vergessene Relikte der Wasserkultur auf und verfolgte den Verlauf der Wassersysteme mit seinen zahlreichen Zisternen. Die „Yerebatan-Zisterne“ ist wohl die bekannteste. Sie ist restauriert und touristisch erschlossen. Gegenüber der Hagia Sophia führt eine kleine Treppe hinab in eine kolossale, unterirdische Welt. Noch immer steht das Wasser darin. Stege ermöglichen einen Rundgang durch das versunkene Wasserreich. Analog plant Erdem in der Zisterne der Zeyrek-Moschee einen Garten. Die Moschee, die einst als Klosteranlage gebaut wurde und von 1118 - 1435 auch als Pantokrator-Kirche gedient hatte, war reich an Schätzen des byzantinischen Reiches. Anstelle von Wasser sollen hier ein futuristischer Garten mit Grasboden, Palmen mit Luft gefüllte Sitzkissen und Hängematten zu finden sein. Als Beleuchtung wird künstliches Sonnenlicht, das die Fotosynthese der Pflanzen ermöglicht, installiert. Vorhänge aus fließendem Wasser unterteilen den Raum. Zu hören sind Wasserklänge, die den Verkehrslärm und die Hektik der Stadt vergessen lassen. Die Zisterne wurde zeitweise auch als Obstlager genutzt. Eine Vitaminbar soll in Silvia Erdems Projekt Erfrischung an Ort und Stelle bieten. Vergangenheit und Zukunft verschmelzen bei dieser erquicklichen Nutzung der Brache zur reinen Gegenwart.

 Durch die Verbindung von Wasser und Gärten wird auch das Thema Bepflanzung Teil von Silvia Erdems Kunstkonzept. Sie rekonstruierte den historischen osmanischen Garten, auch “Türk Has Bahcesi” in Istanbul genannt, den es in der Ursprungsform in Istanbul nicht mehr gibt. Es sind nur noch Spuren zu erahnen. Der osmanische Garten symbolisierte einen irdischen Spiegel des himmlischen Paradieses und reflektiert eine längst verloren gegangene Philosophie. Heilkräuter spielen darin eine bedeutende Rolle. Nach dem Muster des Osmanischen Gartentypus, gestaltete Silvia Erdem den “Türk Has Bahcesi-Garten” als einen Prototypen. An einem repräsentativen Ort in Istanbul soll dieser Garten realisiert werden. Mit den vergessenen Gärten gelangt die Künstlerin an die Oberfläche zurück und lässt Istanbuls Kulturgeschichte im wörtlichen Sinne wieder erblühen. Auch dabei greift sie auf die historische Wasserkunst zurück. Wasserelemente strukturieren den Garten und verleihen ihm seine Gestalt. Wie damals handelt es sich um ein in sich geschlossenes Wassersystem, das die Pflanzen mit Wasser versorgt und die Blüte des aufstrebenden Istanbuls farbenprächtig begleitet. Erdem entwickelt mit ihren unter- und oberirdischen Projekten ungewöhnliche Kunst im öffentlichen Raum auf höchstem Niveau. Sind es jene Wasserwellen, die sie in ihren Bildern und Zeichnungen festhält, die hier ausschlaggebend und Sinnbild für ihre Arbeiten sind? „Ihre endlose Wanderung, eine in sich bewegte Form symbolisiert ewige Verwandlung und lässt uns zugleich innehalten – die Welle wandert nirgendwohin, läuft niemals aus. … Die innere, in sich geschlossene Bewegung des Wassers, fließend und doch in sich zurück gewendet, steht für den endlosen Kreislauf des Lebens“.[1] Aus diesem Kreislauf schöpft auch die Künstlerin ihre Erkenntnisse und bringt sie in ihren Arbeiten zutage. In den Zeichnungen ist ihr komplexes Wissen über das Wasser eingeflossen. Vielleicht denken wir bei Erdems Bildern zunächst an einen Ozean, der sich beim Eintauchen in ihre Kunstwelten Tropfen für Tropfen in Erkenntnis wandelt. Die Energie, die von den dargestellten Wassermassen ausgeht, beflügelt die Gedanken. Das Gedächtnis des Wassers, durch die Hand der Künstlerin aufs Papier gebannt beginnt in der Betrachtung zu leben. Die meditativ wogenden Wellen folgen einem Rhythmus, der Inneres zum Klingen bringt.

 Silvia Erdem (1964*) studierte bildende Kunst an der Universität der Künste Berlin und absolvierte als Meisterschülerin bei Prof. Rebecca Horn. Sie erhielt Stipendien wie Goldrausch, wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet und ist in internationalen Sammlungen vertreten. Erdem lebt und arbeitet in Istanbul. 2012 gründete sie die Firma H2O art design culture, kurz H2O-adc.

 

Steffi Weiss, 06.01.2013



[1] vgl. S. 240, Massimo Bartolini, Das Begleitbuch dOKUMENTA (13), Katalog 3/3, Hatje Cantz, 2012